Offensive Politik für das Fahrrad: Endlich auch in Kassel! Interview mit Maik Bock vom Radentscheid und ein kurzes Fazit…
Dass Kassel in Vergleich mit einer Rad-Stadt wie Heidelberg einen gigantischen Nachholbedarf aufweist, wundert nicht. Seit Jahrzehnten ist diese Stadt engagiert dabei, den Radfahrern mehr Sicherheit, Platz und Freiräume zu überlassen – mit sichtbarem Erfolg. Man stelle sich in Kassel eine Debatte vor wie dort über den Bau eines Fahrradparkhauses! Das immer noch total autoorientierte Kassel wäre einer Ohnmacht nahe, wenn eine Stadt überhaupt in eine solche fallen könnte! Und Heidelberg ist ja noch nicht einmal der Spitzenreiter in der BRD. Und in Europa schon gar nicht. Bei einem Vergleich mit Kopenhagen, wo sich die Politik tatsächlich vor Jahren schon aufgemacht hat in eine neue Zeit, könnten sich die Politiker in Kassel wirklich etwas abschneiden und, so sie wollten, etwas dazu lernen.
Aber zuerst ein Gespräch mit Maik Bock, einem der Verantwortlichen des Bürgerbegehrens für einen Radentscheid.
Zu allererst, Maik: Gratulation, Kompliment und Anerkennung für das so grandios und erfolgreich durchgeführte Bürgerbegehren mit diesem überaus klaren Ergebnis! Fast 22.000 Unterschriften, knapp 5000 hätten ja schon für das Quorum gereicht, sind eine deutliche Ansage! Vielen Dank dafür, dass Du Dir die Zeit nimmst für ein Interview zur Veröffentlichung in der kassel-zeitung:
1. Frage: Hängt Euch die Ablehnung des Bürgerbegehrens als Vorstufe für einen Entscheid noch nach oder hattet ihr ohnehin nicht die ganz große Enttäuschung zu verkraften, weil es absehbar war, wie sich der Magistrat verhalten würde?
Ja, es war schon absehbar, dass seitens der Stadt versucht wird, eine Ungültigkeit zu erzwingen. Enttäuscht sind wir schon, aber alles andere als geschlagen! Aber mit der Wucht, mit der die Stadt, d.h. der Magistrat – OB Geselle und sein Verkehrsdezernent Stochla – jetzt nach vorne preschen und mit ihrer „Magistratsvorlage zur Förderung des Radverkehrs“ ein vollkommen zahnloses und vollkommen unverbindliches Konzept propagieren, hat uns doch überrascht. Das sind halt Profis und sie wollen sich nicht auf Jahre hinaus festlegen und erst recht wollen sie nicht, dass ihnen jemand reinredet in „ihre“ Politik…
2. Frage: Wie ist das eigentlich gelaufen im Vorfeld und in der Phase der Unterschriftensammlung: Gab es von Seiten der zuständigen Ämter der Stadt konkrete Tipps, relevante Unterstützung oder hat man Euch mehr oder weniger gegen eine rechtliche Wand laufen lassen?
Durchgängige Tipps, verbindliche und konkrete Unterstützung seitens der Verwaltung hat es nicht gegeben. Ein Gespräch mit Dr. Förster vom Straßenverkehrs- und Tiefbauamt hat stattgefunden. Man hat uns auch erklärt, dass für die Finanzierung der im Begehren vorgeschlagenen Maßnahmen keine Fördermittel eingerechnet werden dürfen, weil die ja nicht sicher gewährt werden. Deswegen haben wir dafür die Erhöhung der Gewerbesteuer vorgeschlagen, da dies rechtlich gesehen die einzig sichere Möglichkeit ist. Was die „rechtliche Wand“ angeht, die Bestimmungen u.a. der Hess. Gemeindeordnung (HGO), gehen wir heute davon aus, dass uns das Rathaus mehr oder weniger absichtlich gegen diese hat laufen lassen. Dass es in unseren acht Zielen – fachlich einwandfrei und ausreichend präzise dargestellt – im Vergleich zu einer von einer professionellen Verwaltung und vielen Ämtern aufgestellten vergleichbaren Aufgabenbeschreibung logischerweise Defizite gegeben hat, ist nicht verwunderlich, da uns seitens der HGO deutlich weniger Freiheiten gegeben wurden. So konnten wir beispielsweise keine konkreten Straßen benennen, was sonst bei Vorlagen und Anträgen für die Stadtverordnetenversammlung durchaus möglich ist. Hätte man das vermeiden wollen, hätte es sehr wohl Mittel und Wege gegeben. Aber genau das hat man nicht gewollt.
Ja, definitiv. Mit dieser Veranstaltung sollte uns die Butter vom Brot genommen werden. Unser Erfolg sollte, auch wenn man uns dauernd für unser Engagement über den Klee hinaus gelobt hat, kleingeredet werden. Letztlich seien wir an Dilettantismus und Naivität gescheitert, so die Botschaft zwischen den Zeilen. Gescheitert sind wir aber daran, dass die rechtlichen und finanztechnischen Auflagen für ein unanfechtbares Begehren, das dann zum Bürgerentscheid nach der HGO führt, viel zu hoch sind. Was nützt den Bürger*innen ein Quorum, was relativ leicht zu erreichen ist (für ein einleuchtendes Ziel), wenn danach unüberwindbare Hürden aufgebaut werden?
4. Frage: Gibt’s noch Hoffnung auf Nachbesserungen der Magistratsposition? Meint Ihr, dass Ihr durch Eure bewundernswerte, geduldige und ausdauernde Verhandlungsführung doch noch einige Punkte von Eurem Forderungspaket in den Antrag des Magistrats hinüberretten könnt?
Das wird alles ein längerer Prozess. Im Moment sind wir dabei, alle Fraktionen davon zu überzeugen, dass es sinnvoll ist, unsere Pläne, Ziele und Forderungen in möglichst konkrete parlamentarische Anträge umzustricken. Wir werden sehen, was dabei herauskommt. Wir bleiben auf jeden Fall am Ball und lassen uns nicht zermürben.
5. Frage: Gab und gibt es relevante Unterschiede zwischen den Parteien, die in Kassel die Verantwortung tragen, also zwischen SPD und Grünen?
Natürlich sind da Unterschiede. Und sie sind groß. In der SPD gibt es in der Tat viele Unterstützer für unsere Ziele, aber vermutlich noch mehr Gegner und Skeptiker. Zu lange hat diese Fraktion für ganz andere Ziele Politik gemacht. Die Grünen wollen schon in unsere Richtung, sie wollen aber auch die Koalition nicht aufs Spiel setzen. Das ist jedenfalls mein Eindruck. Und es gibt zwischen den beiden Fraktionen natürlich noch einige andere Spannungsfelder, die vermutliche die Verhandlungen über konkrete und weitergehende Festsetzung für den Ausbau des Radverkehrs belasten bzw. überlagern. Die Kasseler Linke hat unsere Forderungen voll übernommen und steht, man könnte es fast so sagen, treu an der Seite der Aktivisten vom Bürgerbegehren.
6. Frage: Warum seid Ihr nicht zufrieden mit der geplanten personellen Aufstockung im zuständigen Straßenverkehrs- und Tiefbauamt? Von einer Stelle in zurückliegenden Jahren auf nun insgesamt drei, d.h. eine Stelle soll 2019 und noch eine weitere 2020 dazu kommen? Immer noch zu wenig?
Ich glaube an diese Stellen erst, wenn die Leute eingestellt sind und wenn sie auch zu 100 Prozent für die Planung und den Ausbau des Radverkehrs eingesetzt werden. Zu lange sind im Rathaus die für den Radverkehr zuständigen Kolleg*innen auch für viele andere Dinge eingesetzt worden. Natürlich sind diese zwei Stellen schon einmal ein Schritt in die richtige Richtung. Aber um zeitnah eine ausreichende und attraktive Fahrradinfrastruktur auf die Straße zu bringen, braucht es deutlich mehr Personalaufwand.
7. Frage: Bei vielen städtischen Projekten gab es in den zurückliegenden Jahren häufig erheblichen Widerwillen und oft genug massive Opposition bei relevanten Teilen der Kasseler Bevölkerung, wenn städtebauliche Planungen mit dem Verlust von Stellplätzen verbunden waren. Ich erinnere mich z.B. noch daran, wie der letzte Umbauplan für den Entenanger Mitte der 10er Jahre u.a. daran scheiterte, dass einige Stellplätze weggefallen wären. Raum und Platz ist aber nun mal nicht vermehrbar. Was wird aus der augenblicklich doch sehr positiven Grundstimmung Euren zentralen Forderungen gegenüber, wenn klar wird, dass eine sehr große Anzahl von Stellplätzen z.B. entlang einer großen Hauptverkehrsachsen wegfallen wird für die eigene Radspur? Oder wenn für die steigende Zahl von Fahrrädern Autostellplätze verdrängt werden?
Uns ist klar, dass es um heilige Kühe geht und dass es am Ende zahlreiche Konflikte um den nicht vermehrbaren Platz geben wird. Bei solchen Dingen, wenn Privilegien und Bequemlichkeiten verloren gehen, sind sofort Emotionen im Spiel. Dann muss die Argumentation sein, dass sich mit solchen Eingriffen die Lebensqualität von allen, den Bewohner*innen und allen, die – in welcher Form auch immer – in der Stadt mobil sein wollen, steigt. Die Stadt wird schlicht schöner sein am Ende und sie wird besser funktionieren. Wir wissen, dass dieses Argument auf längere Sicht wichtiger ist als die Bequemlichkeit einzelner Autofahrer*innen.
Wir werden die ganze Klaviatur der Argumente nutzen. Weil das einfach die Fakten sind: Mit einem massiven Ausbau des Radverkehrs, das zeigen die Untersuchungen in allen entwickelten Ländern, wird, das steckt ja schon in deiner Frage drin, etwas Positives erreicht für alle. Und was mir noch einfällt, kassel-spezifisch natürlich: Die SPD muss aufpassen, falls sie sich zu sehr als Bremser gegen eine solch wünschenswerte Entwicklung stellt, dass sie sich kein neues Trauma erzeugt. Wenn ich das richtig sehe, hängt bei der SPD viel damit zusammen, dass sie nach dem Lolli – Drama als große Verliererin vom Platz ging. Und auch wenn die Akteure heute ganz andere sind: Die Ereignisse von 1993 sind in den Reihen der SPD längst nicht aufgearbeitet. Nur heute ist es anders herum: Heute wollen viele Wähler*innen einen stadtgerechten Verkehr in Kassel – also weniger Autoverkehr und mehr Rad- und Fußverkehr.
9. Frage: Die Behauptung des Magistrats, 20 % der Investitionen bei Straßenbaumaßnahmen seien pauschal schon jetzt dem Radverkehr gewidmet – hältst Du die für seriös? Der ADFC hat da ja seine begründeten Zweifel?
Da machen es sich die Herren von der Stadt doch zu einfach. Und auf die Dauer wird das auch nicht akzeptiert werden. Wie die 22.000 Unterschriften überdeutlich zeigen, was ja ungefähr 15 Prozent der wahlberechtigten Bürger*innen von Kassel entspricht, wollen die Engagierten und die diejenigen, die auf Verbesserungen beim Radverkehr hoffen, sehr bald realistische, überprüf- und vor allem sichtbare Fortschritte sehen: Und eben nicht nur auf die Straßen gemalte Pseudoradwege, die immer noch hochgradig unsicher sind. Und eben nur aus Farbe!
10. Frage: Wenn man sich die vielen Rad-Städte in Deutschland und Europa anschaut, Kopenhagen natürlich vorneweg: Was haben diese Städte im Grundsatz richtig gemacht und was macht Kassel falsch?
Ganz einfach: Kassel hat verschlafen, was für ein positives Potential in der Entwicklung des Radverkehrs steckt. Die Verbesserung der Luftqualität, die verbesserte Sicherheit bei sinkenden Unfallzahlen, die Verlangsamung des gesamten Verkehrs, die Reduktion des Lärms – all das nützt am Ende allen. Kassel hat viel zu spät erkannt, dass man damit auf die Dauer Lorbeeren erringen kann, die wunderbar zum Weltkulturerbe, zur documenta und den vielen anderen positiven Besonderheiten der Stadt passen. Eine im weitesten Sinne verkehrsberuhigte Stadt, in der die Radfahrer*innen gleichberechtigt und entspannt ihre berechtigten Mobilitätsbedürfnisse ausleben können, ist eine bessere, schönere Stadt. Das zeigt vor allem das Beispiel Kopenhagen. Die Verantwortlichen der Stadt sollten dringend eine Dienstreise dorthin machen.
11. Frage: Das Auto hat seinen Siegeszug ja nicht nur angetreten, weil die Politiker alles vergeigt, falsch gemacht oder weil sie sich viel zu sehr an der langen Leine der Autokonzerne bewegt hätten. So einfach ist es ja nicht. Die Verliebtheit ins Auto, das Hängen an ihm, ist durchaus eine Angelegenheit, die Gründe und Ursachen hat. Schön, bequem, beheizt, mehr oder weniger günstig (was relativ ist), jederzeit verfügbar, geeignet für Strecken und Transporte aller Art – und jetzt wollt Ihr, auch wenn es erst mal keinen Bürgerentscheid geben wird, tatsächlich Ernst machen und den verfügbaren, knappen urbanen Freiraum drastisch einschränken und verknappen, für eben dieses herrliche Auto? Meint Ihr, dass die Politiker dieser Stadt, die gerade auf diesem Politikfeld schon so oft eingeknickt sind, das am Ende durchhalten?
Wir glauben tatsächlich, dass die Zeit reif ist für Veränderungen, gerade in Kassel. Sicher ist es hier besonders schwierig, was viele Gründe hat. Die aber alle aufzuzählen, führte zu weit. Wir lassen uns im Moment, in der Phase schwieriger Verhandlungen mit allen Parteien, den zuständigen Ämtern und der politischen Führung der Stadt aber nicht entmutigen: Die vielen tausend Gespräche mit den Leuten auf der Straße, an der Uni und in Bus und Straßenbahn lassen klar erkennen: Die Menschen in Kassel wollen die Mobilitätswende. Und wir haben auch das Gefühl, dass eine Ausweitung des Radfahrens in der Stadt andere Formen umweltfreundlichen Verkehrs quasi nach sich zieht.
12. Frage: In den Schubläden der Stadt schlummern viele Verkehrsentwicklungspläne, so z.B. der Generalverkehrsplan von Anfang 2002, aber auch der jüngste Verkehrsentwicklungsplan 2030. Verändert haben die leider kaum etwas. Nun aber soll es der aktuelle Magistratsbeschluss zum Ausbau des Radverkehrs richten und wirklich eine neue Zeit einläuten? Ist das zu glauben? In Wirklichkeit kam es ja zu diesem Papier nur, weil in der ganzen Stadt eine bislang nie dagewesene positive Stimmung durch eure Unterschriftenaktion erzeugt wurde und weil sich der Magistrat nach der Ablehnung des Radentscheids (um nicht ganz entblößt vor der Stadtgesellschaft zu stehen), dringend um Schadensbegrenzung bemühen musste. Im Sinne: Wenn man eine Entwicklung nicht mehr verhindern kann, muss man versuchen, sich an die Spitze der Bewegung zu stellen und die Ziele selbst vorgeben.
In solche Fragestellungen wollen wir uns lieber nicht hinein begeben. Und über die Motive der Einzelnen in diesem komplexen Handlungsgeflecht zu rätseln, bringt uns und die Bewegung für einen besseren Radverkehr auch nicht wirklich voran. Aber eins ist klar: Der Magistrat hat im Prinzip nur die Überschriften unseres Bürgerbegehrens abgeschrieben, die Inhalte jedoch nur sehr zaghaft, ungenau und unverbindlich übernommen. Wir werden ihm weiter auf den Zahn fühlen, am Ball bleiben und auch – ich habe das jüngst im Ausschuss für Finanzen, Wirtschaft und Grundsatzfragen ziemlich deutlich so formuliert – die Entscheidung, den Radentscheid gar nicht erst zuzulassen, juristisch anfechten. Das machen wir davon abhängig, wie sich die weiteren Verhandlungen mit der Stadt und den Parteien entwickeln. Natürlich wird es in allererster Linie davon abhängen, wie nun die von den Parteien zum Thema eingebrachten Anträge aussehen und entschieden werden.
Heute haben es die Propheten noch schwerer als in anderen Zeiten. Aber ich bin mir sicher, dass wir noch lange durchhalten. Und ich wage auch die Behauptung, dass der Wandel der Überzeugungen zur Zukunft der Stadt, in der man sich anders bewegen wird als heute, tatsächlich in den Köpfen der Mehrheit der Bürger*innen stattgefunden hat. Von da her siehst Du mich entspannt und optimistisch.
14. Letzte Frage: Traust Du Dir eine Prognose zu und sagst mir: Wie viele Kilometer baulich getrennte, sichere Radwege an den heute nur unter Lebensgefahr für Radler*innen nutzbaren Hauptverkehrsstraßen haben wir in Kassel im Jahr 2025?
Ganz schwer zu beantworten. Aber das Wichtigste beim Radverkehr und seiner Optimierung ist die Qualität des gesamten Netzes. Die Kilometer entlang der Hauptverkehrsstraßen sind am Ende eher symbolisch, aber dennoch natürlich nötig. Deswegen lautet meine Antwort dazu: Es wird einige Kilometer geben dort, wo der Druck nicht ganz so massiv ist. Aber was es bis dahin geben wird: Man wird den Wandel spüren, weil permanent an der Netzqualität, den Kreuzungen, den Abstellmöglichkeiten für Fahrräder und an der Verbesserung des Mobilitätsklimas gearbeitet wird. Und genau darum geht es uns. Das wollen wir erreichen. Unbedingt.
Auch wenn die Fragen und Antworten im Interview erschöpfend sind, ein Fazit soll’s trotzdem geben. Aber nur ein ganz kurzes: Der Fragen stellende Autor meint, dass die Stadt – und damit sind wahrhaftig nicht nur OB Geselle und Verkehrsdezernent Stochla gemeint – die Chance, die im wegweisenden Bürgerbegehren für einen Radentscheid steckt, unbedingt nutzen sollte. Alle Parteien, alle Organisationen, die sich einer veränderten Mobilität verschrieben haben, letztlich alle Bürger*innen der Stadt, die ganze Stadtgesellschaft, sind aufgerufen, den Schwung, den Rückenwind, den die engagierten und visionären Kämpfer*innen für ein fahrradfreundlicheres Kassel in die Stadt getragen haben, zu nutzen für mutige Entscheidungen. Auf dass Kassel besser wird.