Ruheoasen als Lärmschutz? Was für ein Unsinn!
Auch wenn Andi Scheuer in Kassel direkt nix zu sagen hat (was gut ist), so gibt es natürlich auch hier in Kassel vollkommen abwegige, ja ganz und gar absurde Vorschläge, wenn es darum geht, gravierende Probleme und Missstände zu beheben. Ein Beispiel, ein krasses, ist der Bau bzw. die Ausweisung von sogenannten Ruheoasen gegen Verkehrslärm.
Loben darf man den Magistrat dafür, dass er nun etwas unternehmen will, was seit vielen Jahrzehnten schon als Störung bzw. als Krankmacher von Relevanz bekannt ist. Er folgt damit aber keinen eigenen Einsichten, vielmehr den Vorgaben der Europäischen Union, die mit der sog. Umgebungslärmrichtlinie entsprechende Vorgaben gemacht hat. Diesen Vorgaben und Anforderungen versucht nun – weil das zu seinen Aufgaben gehört – das Regierungspräsidium Kassel entsprechend Rechnung zu tragen, indem es den bereits existierenden Lärmaktionsplan neu formuliert, fortgeschrieben hat. Und dem folgt der Magistrat mit der Idee dieser Ruheoasen… D.h. konkret: Er will nun, vom RP vermutlich in Bälde zum Handeln aufgefordert, statt den Lärm zu mindern durch wirksame Maßnahmen und Eingriffe in den kommunalen Verkehr, lediglich „Entlastung“ anbieten durch eben diese Oasen. Von sich aus, das muss man leider feststellen, wäre der Magistrat – grüner Baudezernent hin oder her – wohl gar nicht erst aktiv geworden.
Man weiß natürlich längst, auch in Kassel, wie stark Verkehrslärm die Gesundheit, den Schlaf und ganz allgemein das Wohlbefinden von Stadtbewohnern einschränkt. Ein paar ganz wenige Zahlen mögen das unterstreichen:
Straßenlärm ist national und EU-weit mit über 80% die weitaus häufigste Quelle für starke Belästigungen, Schlafstörungen und steigende Gesundheitskosten. Ca. 70% dieser Belästigungen fallen in städtischen Agglomerationen an und ca. 75% der dort wohnenden Bevölkerung klagen lt. Umweltbundesamt über negative Folgewirkungen von Verkehrslärm. Schätzungen gehen davon aus, dass allein in Kassel um die 15.000 Personen mehr oder weniger stark unter Verkehrslärm leiden…
Die durch Verkehrslärm auftretenden Gesundheitsschäden in Städten sind seit Langem zweifelsfrei durch entsprechende Forschungsergebnisse belegt. Zum einen handelt es sich um eins der größten, ungelösten Problemfelder im urbanen Zusammenleben, zum anderen sind die vielen negativen Auswirkungen des Verkehrslärms das Gegenteil von neu.
Wenn sich die Stadt Kassel nun endlich auf den Weg macht, etwas gegen den Verkehrslärm zu unternehmen, dann hätte man besser mal dort nachgefragt, wo andere Städte schon erfolgreich mit wirksamen Maßnahmen gegen Verkehrslärm vorgegangen sind und bereits über entsprechende Erfahrungen verfügen. Hilfreich wäre auch das Studium von Physik Schul- und Lehrbüchern gewesen. Dort hätte man vor der Verkündung, gegen Verkehrslärm mit Ruheoasen vorgehen zu wollen, durchaus lesen (und dann ggf. auch begreifen?) können, dass man Lärm grundsätzlich und am besten dort bekämpft, das ist Physik in Reinkultur und leicht nachzuvollziehen, wo er entsteht: Also dort, wo die Autos fahren… Auf den Straßen, an den Straßen!
Jeder weiß das, und dass der Baudezernent das ebenfalls weiß, davon darf ausgegangen werden. Warum jetzt Stadtoasen (= grüne, ruhige Orte zur Entspannung, vgl. HNA vom 5. Juni 2020) helfen sollen, durch Verkehrslärm entstandene Schäden an der Physis oder Psyche der Anwohner stark befahrener Straßen zu reparieren oder auch nur zu lindern, leuchtet partout nicht ein. Was natürlich kein Argument gegen solche grünen Oasen ist! Ich selbst habe dazu kürzlich an dieser Stelle…
ausführlich darüber nicht nur geschrieben, sondern auch massiv dafür geworben. In meinem Artikel mache ich mich stark für solche grünen Stadträume und Stadtoasen, um wirksam etwas gegen die auf die urbanen Ballungsräume zukommenden Überwärmungstendenzen zu unternehmen. Denn: Um den negativen Mikroklimaveränderungen durch Überwärmung entgegen zu wirken, brauchen die Städte nicht nur solche grünen Oasen, sondern eine Groß-Offensive in Sachen Nachbegrünung, die weit über solche Oasen hinaus geht… Mit anderen Worten: Solche Oasen sind gut und sehr zu befürworten, wenn sie integraler Bestandteil einer geplanten, noch durchzusetzenden massiven Nachbegrünung der Stadt sind. Sie helfen jedoch überhaupt nicht gegen krankmachenden Verkehrslärm. Gegen den hilft nur und ausschließlich Lärmschutz (am Entstehungsort) und Lärmvermeidung durch eine kluge Mobilitätspolitik mit einem klaren Bekenntnis zum öffentlichen Nahverkehr und zum Ausbau des Radverkehrs. Wer also etwas gegen den Lärm tun will, was dringend und seit Jahren geboten ist, muss in den Verkehr eingreifen und sich nicht mit grünem Rumgewusel um konkrete (aber wirksame!) Eingriffe in den Autoverkehr herumdrücken.
Da für eine andere Verkehrspolitik auf Bundesebene der oben erwähnte Herr Scheuer zuständig ist, von dem kreative Lösungen aber eher nicht zu erwarten sind, und die Kommunen bei der Produktion umweltfreundlicher Fahrzeuge nicht viel ausrichten können, bleibt nur die kommunale Verkehrspolitik. Von der Stadt Kassel wäre als Teil einer ernstgemeinten Verkehrswende, die wir alle so dringend eher gestern denn morgen bräuchten, als erste Maßnahme die flächendeckende Einführung von Tempo 30 auf allen Straßen zu erwarten. Auch das könnte man in Etappen machen: In einem ersten Schritt wird Tempo 30 nachts auf den am stärksten belasteten Straßen eingeführt, dann Tempo 30 stadtweit nachts und nach einem weiteren halben Jahr und der Auswertung der gemachten Erfahrungen, Tempo 30 überall und ganztägig. Vieles andere, wie der massive Ausbau des Radwegenetzes und des öffentlichen Verkehrs muss mit großem Engagement und viel Energie auf den Weg gebracht werden: und das rasch. Sonst wird es nichts mit CO2 Neutralität bis 2050 entsprechend der Ziele der EU und einem lebenswerten Leben in einer lebenswerten Stadt mit weniger Autoverkehr, viel mehr Fahrrädern und deutlich besserer Luft. Vor allem aber: mit weniger Lärm!
Statt Ruheoasen also, die das Lärm-Problem nicht anfassen, ist LÄRMREDUZIERUNG nötig. Und die Stadt weiß genau, wie das geht, im Prinzip zumindest. Wären die Stadtteile, also z.B. Kirchdithmold, Mulang, Wilhelmshöhe, Brasselsberg etc. lärmumtost, eine witzige Vorstellung, dann gäbe es sehr wohl Lärmschutz an den entsprechenden Straßen dieser Stadtteile. Warum? Weil es dann die Damen und Herren der Stadtregierung mit potenteren Lärm-Gegnern zu tun hätten. Mit Gegnern, die gute Anwälte haben, sich solche leisten können oder selber welche sind. So aber leben die ungefähr 15 Tausend Lärmgeplagten in der nordhessischen Metropole eher im Norden und im Osten der Stadt, an der Holländischen, Leipziger, Ihringshäuser, Frankfurter Straße … Und die leben zwar nah am Lärm, haben aber nicht unbedingt den direkten Kontakt zu guten Anwälten und sonstigen Interessenvertretern, die dem Magistrat Beine machen könnten…