Schon im Dezember 2018, in der letzten Sitzung der Verbandversammlung des Zweckverbandes Raum Kassel (ZRK)*, kündigte es sich an: Die unbedachte, rücksichtslose und vollkommen unnötige Ausweitung von Bauflächen für Häuslebauer im Norden von Vellmar – östlich der neuen Endhaltestelle der Linie 1 – würde für heftige Diskussionen sorgen. Und so kam es dann auch. Während für den Beschluss zur Offenlage für die Änderung des gültigen Flächennutzungsplanes im Dezember 2018 noch eine knappe Mehrheit in besagter Versammlung zustande kam, war es mit Mehrheiten im Planungsausschuss Anfang März des neuen Jahres im Vorfeld der hier zu kommentierenden Verbandsversammlung dann vorbei: Der Ausschuss stimmte, nach einer emotionalen, qualifizierten und ausgesprochen ernsthaften Debatte gegen den Plan der Stadt Vellmar für diese Ausweitung von Bauflächen am Rand des Stadtgebietes. Zum ersten Mal seit vielen Jahren votierte damit ein Ausschuss gegen eine Vorlage von Verbandsvorstand und Verwaltung und damit gegen die Ausweitung von Bauland in einer der großen Umlandgemeinden. Damit haben die Abgeordneten der Verbandsversammlung zum ersten Mal in einem wichtigen Punkt der SPD Dominanz in diesem Gremium widerstanden: Allein mit der Qualität und Durchschlagskraft der Argumente! Das kommt einem Erdbeben gleich und gibt Anlass zu neuen Hoffnungen. Aber schön der Reihe nach.
Im August 2017 beschließt der Verbandsvorstand, an der Verbandsversammlung vorbei, die Einleitung eines Flächennutzungsplan-Änderungsverfahrens. Um es ins Parlamentarismus-Deutsch zu übersetzen: Vorbei an der Legislative, was hier der Verbandsversammlung entspricht, die dafür eigentlich zuständig ist. Aber damit nicht genug. Das Vellmarer Projekt widerspricht nicht nur dem gültigen Flächennutzungsplan, der ja eben deshalb geändert werden muss, es widerspricht auch dem 2009 beschlossenen Regionalplan Nordhessen. Der wird beim RP im zuständigen Ausschuss am 16. Februar 2018 geändert. Das Projekt widerspricht aber auch allen anderen Plänen, die sich der ZRK selbst als Grundlage für seine Arbeit gegeben hat: So ist dieses Areal nicht im Siedlungsrahmenkonzept 2015 enthalten genauso wenig wie im Landschaftsplan von 2007…
Die Argumente der Befürworter einer solchen Arie von Änderungen von übergeordneten Planungen, die alle ihren Sinn haben und die eigentlich eingehalten werden sollten, sind immer die gleichen: angebliche Wohnungsnot und erheblicher Bedarf insbesondere an Einfamilien- und Reihenhäusern! Aber schon die Ausgangsbehauptung ist falsch und von den aktuellen statistischen Prognosen in keiner Weise gedeckt. Nach einem weiteren, sehr moderaten Anstieg der Bevölkerungszahlen bis 2025 fällt die Einwohnerzahl – sowohl in Kassel als auch im Umland resp. Speckgürtel (dort sogar noch deutlicher) – nach verschiedenen Prognosen schon wieder deutlich. Und, darüber sind sich alle einig, die sich in Sachen Wohnungsbedarf auskennen: Relevante Wohnungsdefizite gibt es nahezu ausschließlich im günstigen Preissegment, also im wie auch immer gearteten öffentlich geförderten Geschosswohnungsbau, weil genau dieses Preissegment spätestens seit Mitte der 90iger Jahre sträflich vernachlässigt wurde: Was Fachleute, Linke und viele sozialen Verbände seit Jahren vehement kritisieren. Und all das lange bevor sich das Wohnungsdefizit durch Zuwanderung dann noch einmal zugespitzt hat.
Dass mit dem Vellmarer Projekt vor dem Hintergrund eines gestiegenen Umweltbewusstseins alle, aber auch wirklich alle Regeln für den sorgfältigen Umgang mit nicht vermehrbaren Ressourcen, vor allem Boden ist eine solche Ressource, gröblich – und wie wir noch sehen werden – ganz ohne Not verletzt werden, war Ursache und Hintergrund für die Debatten im Planungsausschuss Anfang März. Der Unterzeichner war mitnichten allein mit seiner wie immer deutlich ökologisch orientierten Betrachtungsweise und damit, dass dem schon pathologischen Flächenverbrauch endlich ein Riegel vorgeschoben werden muss. Die mehr als 3 Hektar, die allein in Hessen jeden Tag verbraucht und versiegelt werden, sind einfach zu viel. Das wissen eigentlich auch die Mitglieder des ZRK. Und so gingen die Stimmen gegen eine erneute Versiegelung in diesen Dimensionen auch quer durch alle Fraktionen, mit Ausnahme natürlich der SPD Fraktion. Sie blieb unbeirrt bei ihrer Position. Auch Bürgermeister Ludewig aus Vellmar gab sein Bestes, um für eine erneute Baulandausweitung zu werben. Er habe sich jahrelang dafür engagiert, dass das Bauland nun endlich bereit gestellt wird. Auch deshalb ist die Stadt Vellmar wohl vorgeprescht und hat schon vor der endgültigen Beschlussfassung im Internet den bald beginnenden Verkauf von Grundstücken angepriesen. Eigentlich ein Unding. Aber, wie schon geschildert, für eine Mehrheit sollte es an diesem Tag im besagten Ausschuss nicht reichen. Wütend verließ Bürgermeister Ludewig daraufhin die Sitzung.
Nach diesem Verlauf in der Ausschusssitzung war klar, dass eine spannende Verbandsversammlung bevorstand. Und die sollte es dann auch geben. Alle Fraktionen waren komplett am Start. Und tatsächlich hagelte es Kritik von allen Seiten. Für die CDU, vermutlich weil es innerhalb der Fraktion unterschiedliche Positionen zum Thema gab, läutete Fraktionsvorsitzender Stöter die Debatte ein und nahm Bezug auf die oben beschriebene Ausschusssitzung vom März. Stöter gibt die Abstimmung in der Fraktion frei; es soll also keinen Fraktionszwang geben. Er selbst sei jedoch als Bürger von Vellmar für die Baulandausweitung und würde entsprechend abstimmen. Aber er zeigt Verständnis für alle diejenigen, die aus den bekannten ökologischen Gründen gegen eine solche Bodenverschwendung stimmen wollten. Die SPD bleibt auch in der Verbandsversammlung unbelehrbar und uneinsichtig: Für sie gibt es nur eine Zukunft mit noch mehr Einfamilien- und Reihenhäusern, auch wenn es den Bedarf dafür nur noch bedingt gibt. Die Grünen wollen den Antrag von der Tagesordnung absetzen mit dem Ziel, bis zur nächsten Sitzung im Sommer die Inhalte des im Verfahren befindlichen Bebauungsplans der Stadt Vellmar noch mit „grünen“ Verbesserungen aufzuhübschen: Energieversorgung, begrünte Dächer, Umgang mit Wasser etc.. Wie das gelingen soll, ist allerdings völlig offen. Die Fraktion der Linken ist als einzige klar gegen diesen Plan, signalisiert jedoch, da eine Mehrheit für einen Verzicht ja nicht in Sicht ist, am Ende für den Antrag der Grünen stimmen zu wollen.
Aber es waren nicht nur die Bedenken in Bezug auf den Flächenverbrauch mit seinen kritischen ökologischen Folgen und die falsche Wohnungspolitik, die diese Sitzung bestimmten. Im Kern ging es darum, dass der Innenentwicklung – d.h. dem Bauen innerhalb von städtischen Strukturen, wo Erschließung und technische und soziale Infrastruktur bereits vorhanden sind – unter allen Umständen der Vorzug einzuräumen ist. Und genau hier, beim Beispiel in Vellmar mit den 16 Hektar Neubauland am nördlichen Ortsrand, gab und gibt es diese Alternativen sehr wohl. Innenwicklung wäre an 3 Stellen möglich: So nordwestlich vom Einkaufzentrum Herkules, in Vellmar West nördlich vom Jungfernkopf und am (integrierten) Ortsrand von Frommershausen. An diesen drei Stellen, die vom Flächenvolumen in etwa den geplanten 16 Hektar entsprechen, hätte die Stadt Vellmar – sicherlich in mühsamen Verhandlungen – eine Bebaubarkeit durchsetzen können und müssen.
Niemand bestreitet, dass es bei vielen (nicht nur) kommunalen Projekten private Eigentümer gibt, die aus ganz unterschiedlichen Motiven nicht verkaufen wollen. Die einen haben Dollarzeichen in den Augen und pokern hoch, um das Maximale für ihr Eigentum heraus zu holen. Die anderen wollen es einfach nur ihren Kindern für später hinterlassen oder eine Erbengemeinschaft kann sich nicht einig werden über Verkaufen oder nicht. Aber wenn die auf dem Tisch liegenden Angebote von Stadt oder Gemeinde korrekt und ausreichend hoch sind, darf die Gemeinde, wenn alle Dialoge und Angebote fruchtlos geblieben sind, auch an die vorhandenen rechtlichen Möglichkeiten denken. Sinnvolle Projekte, die im Interesse einer Stadt und ihrer Bewohner*innen liegen, deswegen einfach fallen zu lassen und aufzugeben bzw. in ökologisch bedenklicher Weise an den Stadtrand auszuweichen, ist nicht oder nicht mehr in Ordnung. Vielmehr muss zum einen langer Atem an den Tag gelegt werden in den Verhandlungen mit den Privaten und es darf auch nicht davor zurück geschreckt werden, den „Herrschaften“ die Anwendung der rechtlich möglichen und zur Verfügung stehenden gesetzlichen Regelungen anzudrohen. Das ist legitim und vom Gesetzgeber durchaus gewollt.
Es kann und darf durchaus aufs Grundgesetz verwiesen werden, wie u.a. das aktuelle Beispiel Berlin zeigt. Vor dem Hintergrund realer und nicht imaginierter ökologischer Probleme in großem Maßstab sollte verstärkt daran erinnert werden, das „Eigentum verpflichtet“. So eröffnen die §§ 14 und 15 des Grundgesetzes („Eigentum verpflichtet“ und „Grund und Boden… können … in Gemeineigentum überführt werden“) durchaus Möglichkeiten. Sie werden im Übrigen, ohne dass die dabei beteiligten Behörden sozialistischer Umtriebe bezichtigt werden könnten, bei vielen Großprojekten regelmäßig genutzt. Ob, um beim Beispiel Vellmar zu bleiben, das Instrument Enteignung (natürlich mit gesetzlich geregelter Entschädigung!!) hier das Richtige ist, vermag der Autor als Nichtjurist nicht abschließend zu sagen. Aber es muss auch nicht zwingend dieser Pfad eingeschlagen werden. Das Baugesetzbuch (BauGB) ist ja auch noch da. So kommt dort z.B. der § 176, Abs. 2 (Baugebot für unbebaute oder geringfügig bebaute Grundstücke etc.) in Frage. Geeignet wäre durchaus auch der § 47, der sich mit der Möglichkeit eines Umlegungsverfahrens befasst. Welches die beste Lösung für die Vellmar ist oder gewesen wäre, steht dahin. Vielmehr kommt es darauf an zu kritisieren, dass sich Vellmar und im Schlepptau der Zweckverbandsvorstand für die Schlechteste aller Lösungen entschieden haben: Für eine neue Einfamilien- und Reihenhaussiedlung vor den Toren der Stadt anstelle der viel sinnvolleren Innenentwicklung.
Beim Bauen wieder mehr den Gemeinschaftssinn im Zeichen großer ökologischer Probleme – Klimaerwärmung und Artensterben – in den Vordergrund zu stellen, ist das Gebot der Stunde. Das meint auch der Ex-Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung, Heribert Prantl: „Eigentum verpflichtet: Das ist das vergessene Fundament des Sozialstaates“. Daran sollten wir beim Handeln, Diskutieren und Abstimmen bei den durchaus bedeutungsvollen Entscheidungen im ZRK denken.
Der Unterzeichner verwies in der o.a. Debatte in der letzten Verbandsversammlung nicht ohne Grund auf einen der ersten und bedeutendsten Ökologen, den Allroundwissenschaftler Alexander von Humboldt, der schon im ausgehenden 18. Jahrhundert, als Zeitgenosse von Goethe und eng mit diesem befreundet, zu begreifen begann, dass man nicht grenzen- und rücksichtslos in die natürlichen Zusammenhänge eingreifen darf. Dieser im Wortsinne bahnbrechende Wissenschaftler verdient allergrößte Aufmerksamkeit, nicht nur weil er gerade 250igsten Geburtstag hat…
Um der Vernunft, einer besseren Zukunft, den allseits be- und anerkannten ökologischen Anforderungen – nicht zuletzt auch dem schwarz-grünen Koalitionsvertrag in Hessen (S. 104) – zum Durchbruch zu verhelfen, muss Schluss sein mit hirnlosem Flächenverbrauch. Auch wenn es weh tut und Mühe macht, muss der Verfassung und dem ökologischen Imperativ Genüge getan werden. Und das eben nicht nur in der Bundespolitik, sondern überall, also auch in Vellmar.
Als ersten kleinen Schritt in die (vielleicht) richtige Richtung wurde am Ende der Tagesordnungspunkt mit dem schönen Titel „Änderung des Flächennutzungsplans 45 ‚Wohnen in Vellmar-Nord‘“ von der Tagesordnung genommen werden. Das Thema wird nun im Juni erneut behandelt.
Wir werden sehen, was dabei herauskommt. Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Auch wenn den ZRK so gut wie keiner kennt, auch wenn niemand Notiz von ihm nimmt und von seinen Beschlüssen, was nicht gut ist, so ist er dennoch eine wichtige Institution. Was dort passiert und beschlossen wird, wie das oben diskutierte Beispiel zeigt, ist durchaus von Bedeutung. Deshalb noch ein paar Zeilen über den ZRK, was er ist und wer dazu gehört.
Dazu noch ein Direkt-Link zur Internetseite des Zweckverbandes.
*Was ist der Zweckverband genau?
Der Zweckverband (ZRK) ist eine bedeutsame kommunalpolitische Instanz. Nach seiner Satzung und Geschäftsordnung hat dieser Verband nicht nur die Aufgabe, für alle Gemeinden und Städte, die ihm angehören – als da sind Kassel, Ahnatal, Baunatal, Calden, Fuldabrück, Fuldatal, Kaufungen, Lohfelden, Niestetal, Schauenburg und Vellmar – den Kommunalen Entwicklungsplan, den Flächennutzungsplan, den Landschaftsplan und sonstige gemeindeübergreifende Entwicklungsmaßnahmen aufzustellen und fortzuschreiben. Der ZRK ist darüber hinaus auch mit der Wahrnehmung von interkommunalen Aufgaben und Projekten dann zuständig, wenn er hierfür einen Auftrag erhält. Hierzu gehört z.B. das interkommunale Projekt des Güterverkehrszentrums. Auch beim Flughafen Calden ist der ZRK eingebunden, u.a. bei der Entwicklung eines neuen, rund 80 Hektar großen Gewerbegebiets im Bereich alten Flughafens. Man kann sagen, dass praktisch bei allen relevanten raumgreifenden oder raumbeanspruchenden Maßnahmen der ZRK, meist über die Flächennutzungsplanung, mit im „Geschäft“ ist. Neben den beiden Ausschüssen, Finanzen und Planung, in denen zu fassende Beschlüsse vorbereitet werden, ist die Verbandsversammlung der Ort, quasi die Legislative, in der die Entscheidungen über die Inanspruchnahme bestimmter Flächen letztlich fallen. Der Vorstand bereitet viele dieser Beschlüsse vor…