Verkehrsplanung: Autoverkehr runter – Lebensqualität rauf

Was auffällt bei den im Vorfeld lautgewordenen Debatten um den Verkehrsentwickungsplan (VEP) ist ausgesprochen kasselspezifisch. Kaum werden erste vorsichtige Ziele bekannt, überbieten sich SPD und CDU schon in Verhinderungspolitik und Denkverboten. Die einen, weil sie das Trauma ihres politischen Absturzes von 1993 bis heute nicht verkraftet haben, die anderen, weil sie sich anscheinend einer ewig gestrigen, allein dem Auto zugewandten Mobilitätspolitik verpflichtet fühlen. So aber wird es nichts werden mit Schritten in die richtige Richtung, mit einem Aufbruch zu einem wirklichen Wandel in Sachen Verkehrspolitik. Nimmt man den VEP zur Hand und kämpft sich durch die ganzen Zahlen und Pläne, fällt auf: Es fehlt so was wie ein Oberziel, eine Vision: „Kassel – eine lebens- und liebenswerte Stadt mit umweltfreundlicher Mobilität“ oder so etwas. Aber warum sollen wir uns hier in Kassel nicht an Städten wie Kopenhagen oder Münster orientieren, die Wege beschreiten, die hier in Kassel bislang noch wie von einem anderen Planeten erscheinen? Der Bestandserhebung ist wenig hinzuzufügen. Das Zahlenwerk bestätigt, dass Kassel im Verhältnis zu vielen anderen Städten hinterherhinkt, und das nicht nur im Vergleich mit den Top Ten der fahrrad- und umweltfreundlichsten Städte Europas. In Kassel liegt der Anteil des Autoverkehrs bei 43,4 %, der erst 2030 unter 38 % betragen soll. Das ein Wert, der weit über dem vieler anderer deutscher und europäischer Städte liegt. Die Vergleichszahlen für Münster und Kopenhagen liegen heute schon bei 36,3 % bzw. 29 %. Bis dahin hat Kassel wahrlich noch einen weiten Weg vor sich. Schon diese wenigen Zahlen machen klar, wo die Ursachen für die vielen Missstände in Kassel liegen: In der Dominanz und Schwerpunktsetzung auf das Auto. Und so darf es nicht verwundern, dass die gesetzlich vorgeschriebenen Grenzwerte für Lärm- und Luftschadstoffe in Kassel andauernd und immer wieder überschritten werden. Die Folge davon sind höhere Krankheits- und Sterberaten, insbesondere bei den Menschen, die an den stark autobelasteten Hauptverkehrsstraßen wohnen.

Die gesetzlichen Vorgaben und Möglichkeiten – wirksame Luftreinhaltepläne zu beschließen und umzusetzen – werden nicht beachtet und genutzt. Es wird nichts oder kaum etwas dafür getan, dass attraktive Jobticket-Lösungen angewendet, geschweige denn zum verbindlichen Maßstab für die ganze Stadt gemacht werden. Es gibt in Kassel viele Straßen, Kreuzungen, Kreisel und andere Verkehrssituationen, die für RadfahrerInnen und Fußgänger, zumindest aber für ungeübte oder ängstliche, schwer zu überwindende Barrieren darstellen. Die Voraussetzungen und die grundlegende Infrastruktur für einen verbesserten Fuß- und Radverkehr fehlen weitgehend bzw. sind ungenügend. Insgesamt sind Tendenzen zu einer dauerhaft hohen Belastung beim Mikroklima zu erkennen, die durch den überregionalen bzw. globalen Klimawandel noch verschärft werden. Zieht man dann noch die vom Zweckverband Raum Kassel (ZRK) prognostizierten zunehmenden Flächenversiegelungen für Wohn- und Gewerbeflächen in Betracht, wird sich die Klimasituation und die damit in Verbindung stehenden Belastungen noch verschärfen. An vielen Punkten der Kasseler Verkehrs- und Stadtentwicklungsplanung zeichnen sich falsche Tendenzen ab, die mit dem Thema VEP direkt oder indirekt zu tun haben und negative Trends noch verstärken: So werden immer wieder Neubauprojekte durchgewunken, die Tiefgaragenplätzen an vom ÖPNV optimal erschlossenen Standorten (Hallenbad Mitte, Wintershall Königstor, Studiwohnheim Reitstall etc.) enthalten. Autokreuzungen werden ausgebaut und in ihrer Leistungskapazität gesteigert, obwohl die Regiotram parallel dazu mit hohem finanziellem Aufwand neu ausgebaut worden ist. Und wie die aktuelle Debatte um die Brücke über den großen Kreisel zeigt, ist die Denkweise hier in Kassel immer noch die alte: Optimierung des Individualverkehrs, Vorrang und Privilegien für die Autofahrer – koste es was es wolle. Auch die Genehmigung weiterer neuer Einzelhandelsstandorte und Kapazitätserweiterungen in städtebaulich nicht integrierten Lagen (sogar mit Rechtsbeugung wie beim DEZ), Netto Endstation Holländische Straße, Netto Waldau, Edeka Rothenditmold, Reitermarkt Lohfeldener Rüssel etc. zeigen, dass es noch längst nicht begonnen hat mit dieser Entwicklung, die der neue VEP wohl gerne anstoßen möchte. Aber auch die fast blindwütige Konzentration auf den Bau von flächenfressenden Einfamilien- und Reihenhäusern, statt auf Konversion, Baulückenschließung – also Innenentwicklung – zu setzen, trägt mit zur Verschärfung der zugespitzten Situation bei.

Bevor es in die politische Grundsatz-, Detail – und Fachdebatte geht, hier vorab einige unserer Kernforderungen an die Planung und den Diskussions- und Abstimmungsprozess: Die Luft- und Abgasbelastung darf durch keine der geplanten Maßnahmen weiter gesteigert werden! Jedes Jahr muss mindestens eine der großen Kreuzungen fahrrad- und fußgängerfreundlich umgebaut werden! Jedes Jahr müssen mindestens 100 neue (zusätzliche) Straßenbäume gepflanzt und abgängige ersetzt werden. Jedes 3. Jahr muss der Autoanteil am Gesamtverkehr um 2 % gesenkt werden. Die Holländische Straße muss Tempo 30 Zone werden. Außerdem muss sie zur Allee umgebaut werden! Direkte Anbindung des ÖPNV an die Hochschule innerhalb der nächsten 5 Jahre! Es darf keine weitere Nettoversieglung erfolgen, die Durchlüftung – insbesondere der Innenstadt und der anderen hochverdichteten Bereiche – muss durch die gezielte Reduzierung von Hemmnissen verbessert werden. Das Gleiche gilt für die Überwärmungssituation, die mit geeigneten Maß nahmen wie z.B. Entsiegelung (Innenhöfe und Stadtplätze….), Dach- und Fassadenbegrünung, bekämpft werden muss. Zum Schluss noch ein grundsätzlicher Hinweis zum Planwerk: Damit der Plan nicht, wie viele seiner Vorgänger (der direkte Vorgänger hieß GVP und hat schon bald nach seiner Veröffentlichung niemanden mehr interessiert) in der Schublade verschwindet, fordern wir die Auflistung überprüfbarer Teilziele, die in bestimmten Zeitabständen zu erreichen sind und eine grobe Kosten-Nutzen-Analyse wesentlicher Einzelmaßnahmen. Bei Nichterreichung solcher Ziele muss verpflichtend nachgesteuert werden.

Geschrieben zusammen mit Jann Hellmuth

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