Was das Urteil vom 23. Dezember 2011 in Kassel mit der unaufgeklärten Nazimordserie – auch Dönermorde genannt – zu tun hat?

, ,

Als sich am zeitigen Morgen des 23. Dezember 2011 einige Linke im Amtsgericht in Kassel einfinden, ahnt noch keiner, was die Kasseler Justiz für sie bereithält. Sie kommen alle in erster Linie, um sich mit denjenigen, die während des Wahlkampfes im Frühjahr 2011 an einem Infotisch in der Nordstadt von einem angetrunkenen Neonazi tätlich angegriffen wurden, solidarisch zu zeigen. Die Angegriffenen, alles Mitglieder der ‚Kasseler Linken‘, waren als Zeugen geladen – allerdings wird es zu einer Vernehmung der Zeugen gar nicht kommen.
Der junge Neonazi, ganz lässig, immer in enger Abstimmung mit seinem Anwalt, gesteht den „Übergriff“ und – jetzt kommt’s – gibt vor, von den linken Wahlkämpfern „provoziert“ worden zu sein. Die jedoch hatten nichts anderes gemacht, als Wahlkampfmaterial zu verteilen – was alle andern auch tun, wenn Wahlen anstehen. Vermutlich ging es dem jungen Neonazi aber so wie ‚unserem‘ Verfassungsschutz, der die Parlamentarier der Linken im Bundestag und andernorts haarscharf im Visier behält, weil er sich davon, dass sie es bis in den Bundestag geschafft haben, halt auch ‚provoziert‘ fühlt. Statt die über Jahre mordend durchs Land ziehenden rassistischen Neonazi-Mörder auf dem Schirm zu behalten, werfen sie sich viel lieber mit Kraft, Ausdauer, Akribie und viel Aufwand und Kosten auf die Linken. Das hat Tradition in diesem Land.

Nach dem lächelnd vorgetragenen Schuldbekenntnis – mit dem wichtigen Hinweis auf erheblichen Alkoholkonsum – ergreift der Staatsanwalt das Wort und bemüht sich nach Kräften, Verständnis für den jungen Mann zu mobilisieren. Schön sei der Übergriff, die Handgreiflichkeiten den linken Wahlkämpfern gegenüber, ja nicht gewesen. Schön sei auch der Hitlergruß nicht gewesen. Nein, so was macht ‚man‘ nicht. Aber – nicht wahr – ohne Alkohol wäre ihnen, junger Mann, das doch sicher nicht passiert? Sie hätten sich bestimmt im Griff gehabt, wenn sie nicht so viel gesoffen hätten? Oder anders und noch sensibler gefragt: Ohne den Sprit im Hirn hätten sie doch weder zugeschlagen noch à la Adolf Hitler gegrüßt, oder!?

Die Anwesenden kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus: statt auf das erhebliche und einschlägige Vorstrafenregister des Angeklagten hinzuweisen und vor diesem Hintergrund die im deutschen Strafgesetzbuch vorgesehenen bzw. möglichen harten Strafen bei eindeutigen Verletzungen der §§ 86 und 86 a – u.a. der Hitlergruß fällt hier ganz klar darunter – zu fordern, greift der Staatsanwalt dem Plädoyer des Verteidigers vor und schlägt lediglich eine kleine Geldstrafe vor, die er selbst noch als hart einstuft, weil der junge Mann ja arbeitslos ist!! 600 läppische Euro statt Gefängnis! Wir erlauben uns, den Herrn Staatsanwalt dran zu erinnern, dass beim „Verwenden bzw. Verbreiten von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen“, der Hitlergruß ist so ein Kennzeichen, bis zu 3 Jahre Gefängnis drin sind.

Was für eine Steilvorlage für den Verteidiger: der muss eigentlich nichts mehr machen, als dafür zu sorgen, dass sein rechtsradikaler Mandant die Schnauze hält und folgt daher schlicht und ergreifend dem Vorschlag des Staatsanwaltschaft. Auf die Vernehmung der Zeugen, die den Tathergang vollkommen anders in Erinnerung haben, wird ganz verzichtet. Für den Angeklagten kann Weihnachten ganz entspannt beginnen. Den Zeugen, die umsonst früh aufgestanden sind, bleibt nur Unverständnis und Wut. Da ist sie wieder: die Blindheit der deutschen Justiz auf dem rechten Auge!

Um, zum guten Schluss, die in der Überschrift aufgeworfene Frage zu beantworten: das Gemeinsame dieses viel zu schwachen, fast skandalösen Urteils am Kasseler Amtsgericht am 23. Dezember 2011 mit der Mordserie der Neonazi-Bande, auch wenn es sich dort um ein anderes Kaliber von Verbrechen handelt, ist eben diese Blindheit auf dem rechten Auge. Hier wird ein stadtbekannter, einschlägig vorbestrafter Nazischläger, über dessen Gesinnung sich niemand einer Illusion hingeben sollte, zu ein paar Euro Strafe verurteilt (die er abstottern oder in einer sozialen Institution ableisten kann), dort wird über Jahre die in der rechten Szene vorhandene Gewaltbereitschaft geflissentlich übersehen. Stattdessen, was für ein Schande, werden – über Jahre – die Verwandten der Ermordeten mit erfundenen mafiösen oder anderen verbrecherischen Strukturen in Verbindung gebracht, statt einfach nur und zu allererst bei jedem Mord an einem Menschen mit migrantischem Hintergrund Rassismus als Ursache anzunehmen. Das allein hätte genügt, zwischen den Morden eine Verbindung herzustellen. Vermutlich hätte das dann auch schnell zu den Tätern geführt. Aber anscheinend wollte das niemand, und schon gar niemand in den Organisationen, die sich rühmen, die Verfassung zu schützen. Deren Gedankengut geht – zumindest in Teilen – zurück, das ist leider unumstritten, auf genau die nationalsozialistischen den Organisationen, auf die sich die jungen Nazis aller Couleur bis heute berufen und beziehen. Statt den Nazisumpf mit knallhartem Durchgreifen trocken zu legen, wird gepennt, weggeschaut und über V-Leute noch Geld in die Szene gepumpt und statt vor Gericht hart durchzugreifen und die Paragraphen, die das deutsche Strafrecht ja hat, knallhart anzuwenden, werden verständnisvolle Streicheleinheiten verteilt.

Auf die Gerichte können wir uns, das wurde auch am 23.12.2011 beim Amtsgericht in Kassel mehr als deutlich, nicht verlassen. Es bleibt uns nur, den Druck auf der Straße und in allen gesellschaftlichen Bereichen selbst zu erhöhen, um dem Neonazi-Spuk möglichst bald ein Ende zu machen. Es darf nicht zugelassen werden, dass die Nazis den von ihnen angepeilten Platz in der Mitte der Gesellschaft, mitten im alltäglichen Leben – in den Vereinen, in manchen Parteien, in den Burschenschaften, der ländlichen Kirmes, der Feuerwehr etc. – einnehmen können. Dass das nicht einfach sein wird und dass es nicht schnell geht, muss nicht betont werden.