Schlagwortarchiv für: 26. Juni 2020

Auch wenn der sozialdemokratische Hochadel Kassels, für die o.a. Anzeige ein wenig an- und eingegrünt, zusammen mit denjenigen, die stets in seinem Dunstkreis sich befinden, nun die Entscheidung der aktuellen politischen Führung der Stadt für den Parkplatz an der Oberen Karlsstraße als zukünftigen Standort des Documenta Instituts abgesegnet hat, muss dieser Standort deswegen noch lange nicht der Richtige oder gar Beste sein. Auch wenn diese Absegnung mit einer ganzseitigen, um nicht zu sagen „einseitigen“ Anzeige in der HNA am 27. Juni 2020 den Eindruck erwecken soll, dass angesichts der Wucht an Kompetenz, die mit den Namen ganz offensichtlich demonstriert und transportiert werden soll, nun alles gesagt sei, so tritt dennoch bei anders denkenden Fachleuten und Historikern eher Irritation auf. Warum, das soll hier kurz erläutert werden.

Inserat in der HNA vom 27. Juni 2020

Inserat in der HNA vom 27. Juni 2020

 

Damit keine Missverständnisse entstehen, soll zuerst kurz aufgezählt werden, worum es hier nicht geht:

1. Es geht nicht um eine Unterstützung der Argumente der Anwohner und Geschäftsinhaber, die das Parken auf dem Platz an der Oberen Karlsstraße wegen unverstandenen Eigeninteresses mehr oder weniger beibehalten wollen. Dass dieser Parkplatz schon lange keiner mehr ist, weiß der Unterzeichner so gut wie jede interessierte Leserin. Seine Existenzberechtigung hat er seit langen Jahren verloren. Er ist nur noch da, weil die Verantwortlichen und Zuständigen sich unfähig zeigten, eine adäquate Lösung für diesen bedeutsamen Ort in der Oberneustadt zu entwickeln. Nur so ist zu erklären, dass dieser spannende und historisch positiv aufgeladene Platz bis heute ein Hinterhof zum Abstellen von Autos ist…
2. Es geht auch nicht um eine Verfahrenskritik, die auf das ausgesprochen ungeschickte Projektmanagement insgesamt reagiert. Diese Kritik von verschiedenen Seiten führte dazu, dass der erste Standortvorschlag am Holländischen Platz zuerst als Non plus Ultra-Standort gefeiert und erbittert gegen jede Kritik verteidigt wurde, dann aber peinlicher Weise recht schnell und geräuschlos zurückgezogen werden musste, weil dort nichts zusammen passte…
3. Es geht auch nicht um die geradezu unglaublichen Defizite in der Einbindung interessierter Kreise der Stadtgesellschaft und um die Nichtbeachtung der Rechte und Informationsbedürfnisse der oppositionellen in der Stadtverordnetenversammlung vertretenen Parteien. Man muss in diesem Fall von Durchregieren sprechen, weil sich das Verhalten der beiden Fraktionen in Regierungsverantwortung nicht anders bezeichnen lässt. In der KasselZeitung habe ich darüber im Januar d.J. schon einmal geschrieben:  SPD und Grüne in Kassel bis zu den Neuwahlen 2021 ohne Mehrheit

Der nun ausgewählte und mit knapper Mehrheit beschlossene Standortvorschlag wird durch die Weihen und Segnungen des sozialdemokratischen Hochadels allerdings nicht besser, auch wenn er nun Kritik an der getroffenen Entscheidung quasi abtöten soll: Wenn so viel geballte sozialdemokratische Prominenz für den Karlsplatz votiert und derart viele, namhafte Architekten und Stadtplaner sich für das Documenta Institut eben dort aussprechen, wer sollte da noch wagen, seine Stimme kritisch zu erheben?

Um aber genau das zu tun, gibt es drei gute Gründe:

1. Das Gebäude mit seinen aktuellen bzw. künftigen Flächenansprüchen ist – unabhängig von der über einen Wettbewerb noch zu findenden architektonischen Ausprägung und Form – für den Bereich des Karlsplatzes und seine Umgebung schlicht zu groß. Der Respekt der ehemaligen Oberneustadt gegenüber, schon vielfältig mit Füßen getreten und missachtet, wird ein weiteres Mal sträflich vernachlässigt. Und es darf davon ausgegangen werden, dass ein abermals zu groß geratenes ‚Ufo‘ die Situation mit der eh schon bedrängten Karlskirche nicht nur nicht optimiert, sondern zusätzlich bedroht, wenn das Documenta Institut mit seinen mehr als 6000 Quadratmetern Bruttogeschossfläche dort landet…

2. Das Gebäude ist, auch wenn jetzt im Nachhinein für Lebendigkeit, Offenheit, Transparenz und gut frequentierte Nutzungsarten im Erdgeschoss gesorgt werden soll, für diesen Ort und Raum ungeeignet, weil ein Archiv ein Archiv ist. Damit ist gemeint, dass das Zuschauen beim Archivieren und den damit verbundenen wissenschaftlichen Forschungsarbeiten kaum geeignet sein wird, das Interesse der Öffentlichkeit zu wecken und den Ort mit urbaner Vielfalt zu bereichern… Von der einen oder anderen Tagung abgesehen, wird dort gearbeitet und abends geht das Licht aus. Eine dringend gebotene Aufwertung dieses Bereichs der Innenstadt wird damit eher nicht verbunden sein.

3. Für das begehrte und natürlich überaus zu begrüßende Gebäude gibt es bessere Standorte. Das Gebäude gehört, weil Kassel zum Glück hochgradig geeignete Alternativen für den Bereich des Karlplatzes aufzuweisen hat, entweder an den Brüder Grimm Platz am Beginn der Wilhelmshöher Allee oder auf den Parkplatz zwischen RP und Theater. Beide Standorte haben neben der günstigen städtebaulichen Anbindung außerdem etwas, was der heutige Parkplatz an der Oberen Karlsstraße definitiv nicht bieten kann, nämlich Erweiterungschancen… Es könnte durchaus sein, dass solche Erweiterungen in nicht allzu ferner Zukunft erforderlich werden könnten. Und das ließe sich dann auf dem nun mit Verve beworbenen Areal in der Oberneustadt beim besten Willen nicht mehr realisieren…

 

...ob im und nach dem Wettbewerb das neue documenta Institut auf diesen Stadtgrundriss vom Ende des 19. Jahrhunderts Bezug nehmen wird, darf bezweifelt werden...

…ob im und nach dem Wettbewerb das neue documenta Institut auf diesen Stadtgrundriss vom Ende des 19. Jahrhunderts Bezug nehmen wird, darf bezweifelt werden…

Warum, das fragt der Autor, um nur eine konkrete Alternative für die Bebauung des besagten Autoabstellplatzes im Herzen der Oberneustadt konkret zu benennen, erweitert man nicht das Rathaus an dieser Stelle? Es platzt aus allen Nähten. Und das schon seit Jahren. Die vielen über die Stadt verteilten Verwaltungsstandorte könnten endlich reduziert werden, wenn sich das Rathaus zu einer genialen, kritisch rekonstruierten und gleichzeitig mutigen architektonischen Lösung entschlösse. Mit Kritischer Rekonstruktion, nur falls man/frau das schon wieder vergessen haben sollte, ist das Bauen orientiert am alten Stadtgrundriss, modern interpretiert, gemeint. Dafür wurden die Stadt und ihre für den Wiederaufbau des Kerns der Unterneustadt gegründete Entwicklungsgesellschaft, die PEG, 2002 mehrfach hochkarätig geehrt. So könnte man in der Oberneustadt zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Nicht nur – auch wenn das abstrakt klingt – der Oberneustadt den gebührenden Respekt zuteilwerden lassen, nein, man könnte damit auch den Spiritus Rector für den Bau der Oberneustadt im Auftrag des Landgrafen Karl, Paul du Ry, nachträglich ehren.

Das stünde der Stadt Kassel gut zu Gesicht, die mit einem hastigen Wiederaufbau so viele schmerzhafte Fehler begangen hat. Hier bestünde die Chance einer Wiedergutmachung.

Auch wenn Andi Scheuer in Kassel direkt nix zu sagen hat (was gut ist), so gibt es natürlich auch hier in Kassel vollkommen abwegige, ja ganz und gar absurde Vorschläge, wenn es darum geht, gravierende Probleme und Missstände zu beheben. Ein Beispiel, ein krasses, ist der Bau bzw. die Ausweisung von sogenannten Ruheoasen gegen Verkehrslärm.

Loben darf man den Magistrat dafür, dass er nun etwas unternehmen will, was seit vielen Jahrzehnten schon als Störung bzw. als Krankmacher von Relevanz bekannt ist. Er folgt damit aber keinen eigenen Einsichten, vielmehr den Vorgaben der Europäischen Union, die mit der sog. Umgebungslärmrichtlinie entsprechende Vorgaben gemacht hat. Diesen Vorgaben und Anforderungen versucht nun – weil das zu seinen Aufgaben gehört – das Regierungspräsidium Kassel entsprechend Rechnung zu tragen, indem es den bereits existierenden Lärmaktionsplan neu formuliert, fortgeschrieben hat. Und dem folgt der Magistrat mit der Idee dieser Ruheoasen… D.h. konkret: Er will nun, vom RP vermutlich in Bälde zum Handeln aufgefordert, statt den Lärm zu mindern durch wirksame Maßnahmen und Eingriffe in den kommunalen Verkehr, lediglich „Entlastung“ anbieten durch eben diese Oasen. Von sich aus, das muss man leider feststellen, wäre der Magistrat – grüner Baudezernent hin oder her – wohl gar nicht erst aktiv geworden.

Man weiß natürlich längst, auch in Kassel, wie stark Verkehrslärm die Gesundheit, den Schlaf und ganz allgemein das Wohlbefinden von Stadtbewohnern einschränkt. Ein paar ganz wenige Zahlen mögen das unterstreichen:

Straßenlärm ist national und EU-weit mit über 80% die weitaus häufigste Quelle für starke Belästigungen, Schlafstörungen und steigende Gesundheitskosten. Ca. 70% dieser Belästigungen fallen in städtischen Agglomerationen an und ca. 75% der dort wohnenden Bevölkerung klagen lt. Umweltbundesamt über negative Folgewirkungen von Verkehrslärm. Schätzungen gehen davon aus, dass allein in Kassel um die 15.000 Personen mehr oder weniger stark unter Verkehrslärm leiden…

Die durch Verkehrslärm auftretenden Gesundheitsschäden in Städten sind seit Langem zweifelsfrei durch entsprechende Forschungsergebnisse belegt. Zum einen handelt es sich um eins der größten, ungelösten Problemfelder im urbanen Zusammenleben, zum anderen sind die vielen negativen Auswirkungen des Verkehrslärms das Gegenteil von neu.

Wenn sich die Stadt Kassel nun endlich auf den Weg macht, etwas gegen den Verkehrslärm zu unternehmen, dann hätte man besser mal dort nachgefragt, wo andere Städte schon erfolgreich mit wirksamen Maßnahmen gegen Verkehrslärm vorgegangen sind und bereits über entsprechende Erfahrungen verfügen. Hilfreich wäre auch das Studium von Physik Schul- und Lehrbüchern gewesen. Dort hätte man vor der Verkündung, gegen Verkehrslärm mit Ruheoasen vorgehen zu wollen, durchaus lesen (und dann ggf. auch begreifen?) können, dass man Lärm grundsätzlich und am besten dort bekämpft, das ist Physik in Reinkultur und leicht nachzuvollziehen, wo er entsteht: Also dort, wo die Autos fahren… Auf den Straßen, an den Straßen!

Jeder weiß das, und dass der Baudezernent das ebenfalls weiß, davon darf ausgegangen werden. Warum jetzt Stadtoasen (= grüne, ruhige Orte zur Entspannung, vgl. HNA vom 5. Juni 2020) helfen sollen, durch Verkehrslärm entstandene Schäden an der Physis oder Psyche der Anwohner stark befahrener Straßen zu reparieren oder auch nur zu lindern, leuchtet partout nicht ein. Was natürlich kein Argument gegen solche grünen Oasen ist! Ich selbst habe dazu kürzlich an dieser Stelle…

http://kassel-zeitung.de/cms1/index.php?/archives/18447-So-weit-die-gruene-Rolle-vorwaerts-in-der-Stadtentwicklung-auch-noch-entfernt-scheint,-so-noetig-ist-sie!.html#extended

ausführlich darüber nicht nur geschrieben, sondern auch massiv dafür geworben. In meinem Artikel mache ich mich stark für solche grünen Stadträume und Stadtoasen, um wirksam etwas gegen die auf die urbanen Ballungsräume zukommenden Überwärmungstendenzen zu unternehmen. Denn: Um den negativen Mikroklimaveränderungen durch Überwärmung entgegen zu wirken, brauchen die Städte nicht nur solche grünen Oasen, sondern eine Groß-Offensive in Sachen Nachbegrünung, die weit über solche Oasen hinaus geht… Mit anderen Worten: Solche Oasen sind gut und sehr zu befürworten, wenn sie integraler Bestandteil einer geplanten, noch durchzusetzenden massiven Nachbegrünung der Stadt sind. Sie helfen jedoch überhaupt nicht gegen krankmachenden Verkehrslärm. Gegen den hilft nur und ausschließlich Lärmschutz (am Entstehungsort) und Lärmvermeidung durch eine kluge Mobilitätspolitik mit einem klaren Bekenntnis zum öffentlichen Nahverkehr und zum Ausbau des Radverkehrs. Wer also etwas gegen den Lärm tun will, was dringend und seit Jahren geboten ist, muss in den Verkehr eingreifen und sich nicht mit grünem Rumgewusel um konkrete (aber wirksame!) Eingriffe in den Autoverkehr herumdrücken.

Da für eine andere Verkehrspolitik auf Bundesebene der oben erwähnte Herr Scheuer zuständig ist, von dem kreative Lösungen aber eher nicht zu erwarten sind, und die Kommunen bei der Produktion umweltfreundlicher Fahrzeuge nicht viel ausrichten können, bleibt nur die kommunale Verkehrspolitik. Von der Stadt Kassel wäre als Teil einer ernstgemeinten Verkehrswende, die wir alle so dringend eher gestern denn morgen bräuchten, als erste Maßnahme die flächendeckende Einführung von Tempo 30 auf allen Straßen zu erwarten. Auch das könnte man in Etappen machen: In einem ersten Schritt wird Tempo 30 nachts auf den am stärksten belasteten Straßen eingeführt, dann Tempo 30 stadtweit nachts und nach einem weiteren halben Jahr und der Auswertung der gemachten Erfahrungen, Tempo 30 überall und ganztägig. Vieles andere, wie der massive Ausbau des Radwegenetzes und des öffentlichen Verkehrs muss mit großem Engagement und viel Energie auf den Weg gebracht werden: und das rasch. Sonst wird es nichts mit CO2 Neutralität bis 2050 entsprechend der Ziele der EU und einem lebenswerten Leben in einer lebenswerten Stadt mit weniger Autoverkehr, viel mehr Fahrrädern und deutlich besserer Luft. Vor allem aber: mit weniger Lärm!

Statt Ruheoasen also, die das Lärm-Problem nicht anfassen, ist LÄRMREDUZIERUNG nötig. Und die Stadt weiß genau, wie das geht, im Prinzip zumindest. Wären die Stadtteile, also z.B. Kirchdithmold, Mulang, Wilhelmshöhe, Brasselsberg etc. lärmumtost, eine witzige Vorstellung, dann gäbe es sehr wohl Lärmschutz an den entsprechenden Straßen dieser Stadtteile. Warum? Weil es dann die Damen und Herren der Stadtregierung mit potenteren Lärm-Gegnern zu tun hätten. Mit Gegnern, die gute Anwälte haben, sich solche leisten können oder selber welche sind. So aber leben die ungefähr 15 Tausend Lärmgeplagten in der nordhessischen Metropole eher im Norden und im Osten der Stadt, an der Holländischen, Leipziger, Ihringshäuser, Frankfurter Straße … Und die leben zwar nah am Lärm, haben aber nicht unbedingt den direkten Kontakt zu guten Anwälten und sonstigen Interessenvertretern, die dem Magistrat Beine machen könnten…