Zu den Konsequenzen der antisemitischen Exzesse auf der documenta 15: Offener Brief an Hans Eichel

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Sehr geehrter Herr Eichel,

ich verfolge mit großem Interesse alle Ihre Bemühungen, nach der Präsentation antisemitischer und antiisraelischer Machwerke auf der vergangenen documenta in 2022, diese nun ganz ohne Eingriffe und Schutzmechanismen zu lassen und beim – aus Ihrer Sicht – Erfolgsrezept der vergangenen Jahrzehnte zu bleiben. Sie sind mit solchen Vorstellungen ja nicht allein, wie man allenthalben hören, lesen und sehen kann. Es gibt allerdings eine ganze Reihe guter Gründe, sich um solche Schutzmechanismen sehr wohl Gedanken zu machen.

Wie Sie bin auch ich der Auffassung, dass die documenta für Kassel etwas Großartiges gewesen ist und ich verstehe natürlich, dass gerade jemand wie Sie, der mit Kassel so innig verbunden ist, mit Leib und Seele für diese inzwischen zum Markenzeichen gewordene Ausstellung kämpft.

Aber bei allem Respekt: Sie haben bei Ihren Argumenten für die Beibehaltung der bisherigen Verfahrensmodalitäten und die alleinige Betonung der Kunstfreiheit in Zusammenhang mit Art. 5 GG etwas übersehen: etwas sehr Gewichtiges! Dieses „Gewichtige“ kommt aber in Ihrem langen Artikel in der HNA vom 25.01.2024 und den darauffolgenden Aktivitäten erst gar nicht vor. Es sind die Jüdinnen und Juden, die – wie die Kunst – unter dem Schutz des Grundgesetzes stehen. In diesem Fall unter dem Schutz der Artikel 1 und 3 GG.

Es leben bei uns in Deutschland, mit abnehmender Tendenz, noch rund 90.000 gemeldete jüdische Gemeindemitglieder. Und diese Juden, das ist sozialempirisch belegt, empfanden in ihrer übergroßen Mehrheit nach Abhaltung der d15 in Kassel, vor allem natürlich in Hessen, ein deutlich gestiegenes Gefühl von Unsicherheit und Angst. Noch während der documenta zählte die hessische Registrierungsstelle RIAS einen signifikanten Anstieg antisemitischer Vorfälle. Die Jüdinnen und Juden waren und sind bis heute – auch weil sich Ereignisse von noch größerer Tragweite wie der 7. Oktober 2023 im Anschluss daran ereignet haben – antisemitischer Gewalt, Beleidigungen und Verächtlichmachungen ausgesetzt, d. h. in ihrer Würde angetastet und wegen ihrer Religion und Abstammung benachteiligt. Das darf nicht sein.

Und deshalb, Herr Eichel, widerspreche ich Ihnen, wenn Sie postulieren, nur das Recht dürfe die Kunstfreiheit einschränken. Die Kunstfreiheit kann, das ist natürlich richtig, durch Gerichte eingeschränkt werden, aber eben nicht nur durch diese. Denn neben der Judikative sind – aber wem sage ich das – die beiden anderen Säulen der BRD, Legislative und Exekutive, ebenfalls involviert, betroffen und genauso verpflichtet, zur Einhaltung der angesprochenen Grundgesetzartikel beizutragen.

Diese Verpflichtung aller Organe des Staates, den Jüdinnen und Juden Deutschlands zur Seite zu stehen, hat mit Moral, Verantwortung und Einhaltungen von gegebenen Schutzversprechungen wegen des millionenfachen Mordes an jüdischen Mitbürgern während des Holocaust in Deutschland zu tun. Ob Staatsräson dafür das ideale Wort ist, spielt hier keine Rolle. Aber dieser Begriff ist die Metapher für die unabdingbare Verpflichtung aller Staatsorgane und aller mit öffentlichen Mitteln geförderten Veranstaltungen dafür zu sorgen, dass dieser Verpflichtung Genüge getan wird.

Während der Ausstellung der d15 sind diese Verpflichtungen mit Füßen getreten worden. Wenn jüdische Künstler – der BDS Ideologie der Kuratoren folgend – auf dieser großen Kunstausstellung boykottiert werden, nicht dabei sein dürfen und damit Israel zum Juden unter den Staaten abgestempelt wird, wenn allenthalben antisemitische Zerrbilder und Israel diffamierende Konstrukte und Filme gezeigt werden (unabhängig davon ob sie, wie das große Banner von Taring Padi auf dem Friedrichsplatz, zu- und später abgehängt werden), so verletzt genau das die Würde der Menschen, deren Schutz ganz besonders Deutschland zu garantieren hat.

Nun zu glauben, dass – wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist und die Jüdinnen und Juden in Deutschland einen Zuwachs an Angst und Unsicherheit nach einer Ausstellung wie der d 15 verspüren – die Gerichte es noch richten könnten (was so oder so nicht geschehen ist), kann nur als Irrtum bezeichnet werden. Weil Israel- und Judenhass unter allen Umständen schon im Vorfeld verhindert werden müssen, bedarf es ganz dringend und unbedingt einer Reform „an Leib und Gliedern“ der documenta. Wie die konkret auszusehen hat und ob die von besagter Unternehmensberatung vorgeschlagenen Änderungen an den Strukturen, Abläufen und den sogenannten Codes of Conducts in der Zukunft antisemitische Verirrungen werden verhindern können, muss man abwarten. Ich persönlich meine, dass die Überlegungen in die richtige Richtung gehen. Schon im Gutachten von Frau Prof. Deitelhoff war ja überdeutlich erkennbar, dass bei der documenta erheblicher Reformbedarf besteht. Dass bei Ihren aktuellen Aktivitäten jeder Bezug zu dieser bedeutenden Untersuchung gänzlich fehlt, ist bedauerlich und vielsagend.

Ich jedenfalls hoffe, dass der neue OB Schoeller die Kraft und das Standing hat, die notwendigen Reformen für eine bessere, würdigere documenta umzusetzen.

Das Thema ist natürlich zu groß und zu komplex für einen (einzigen) Brief. Aber eins steht schon jetzt fest: Die Zukunft der documenta ist unsicher! Das spüren Sie, das mobilisiert Sie. Was ich gut verstehe, ist doch die documenta nicht nur das Tafelsilber, vielmehr das Tafelgold der Stadt. Aber gerade deshalb bitte ich Sie: Weiten Sie Ihren Blick für die ganz offensichtlich andere Seite der komplexen Problematik, weil sonst Ihre Bemühungen vielleicht ganz ohne Erfolg bleiben! Denn: So wie der Anti-BDS Beschluss des Bundestages aus 2019 die antisemitischen Exzesse auf der d15 nicht hat verhindern können (wäre der Inhalt dieses Beschlusses eingehalten worden, hätte es die d15 so ja gar nicht gegeben und eben auch keine BDS-Kuratoren), so werden in der Zukunft halbherzige Reformen oder gar deren Boykott erneut zu antisemitischen Auswüchsen führen. Und das wäre für Kassel und die Zukunft der documenta eine Katastrophe.

Der Beschluss des Bundestages sollte meiner Auffassung nach Gesetzeskraft bekommen und die documenta nach entsprechenden Reformen wieder vom Kopf auf die Füße gestellt werden. So in etwa sehe ich das.

Zum Schluss erlaube ich mir noch eine Frage: Selbst wenn es bei der d15 nicht zu der antisemitischen und israelfeindlichen Agitation und Propaganda gekommen wäre: Glauben Sie ernsthaft, in einer sich immer schneller verändernden (Kunst-) Welt ein Ausstellungskonzept aufrecht erhalten zu können, das sich nach dem Krieg (auch durch eine Kaskade sehr glücklicher Zufälle) zu einem Erfolgsrezept für die Präsentation aktueller Kunst entwickelt hat? Und das noch für viele weitere Jahrzehnte? Spricht da nicht schon die Logik dagegen?

Mit freundlichen Grüßen

E. Jochum

PS 1:

Das Bündnis gegen Antisemitismus (BgA), dessen Gründungsmitglied ich bin und dessen Recherchen im Januar 2022 zu einer weltweiten Debatte führten über das, was auf der d15 passieren könnte (und was dann ja bedauerlicherweise auch eintrat), hat – sehr passend zu Ihrer Kampagne – einen Reader herausgegeben, den ich mir erlaube, diesem Brief an Sie beizulegen.

PS 2:

In Anbetracht der Bedeutung des Themas erlaube ich mich mir außerdem, diesen Brief auf dem Blog, auf dem ich meistens schreibe (Kassel-Zeitung.de) und auch auf meiner Seite (eckhard-jochum.de) zu veröffentlichen. Auf der Kassel-Zeitung.de finden Sie außerdem eine ganze Reihe weiterer Artikel von mir zur d15, zum documenta Institut und vielen weiteren kommunalen Themen unsere Stadt betreffend.

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