Es gibt Menschen, die mit der Bundestagswahl im September bestimmte Hoffnungen verbinden werden. Viele werden das inzwischen aber eher nicht (mehr) tun. Einige der Letzteren auch deshalb, weil trotz des vielen Redens über die Klimawandel-Bekämpfung, über immer neue Volten in der Energie-, Landwirtschafts- und Verkehrspolitik, inzwischen die Glaubwürdigkeit der Politik auf der Strecke geblieben ist. Wer, wie CDU und SPD, die die Hebel der Macht seit Jahrzehnten richtig fest in der Hand hielten – sie stellten schlicht alle Regierungen seit Bestehen der BRD, in welcher Farbkombination auch immer – jetzt plötzlich derart geläutert und handlungsbereit auftritt, nur weil ein Gerichtsurteil den beiden Parteien ordentlich die Leviten las, ist alles andere als glaubwürdig. Und wer sollte z.B. einem Herrn Laschet Vertrauen entgegen bringen gerade in Umweltbelangen, wenn der vielleicht im Oktober in enger Umarmung mit Herrn Merz die neue Umweltpolitik der BRD bestimmt? Und wer sollte Herrn Scholz Glauben schenken, der sich um das Wohl der Hamburger Banken mehr gekümmert hat als um arme Hamburger*innen, obwohl er doch damals auch schon sehr genau wusste, dass CumEx-Geschäfte verbrecherischer Steuerbetrug in großem Stil sind? Und auch seine Rolle im Wirecard-Skandal macht ihn nicht vertrauenswürdiger, auch wenn er weiterhin unter dem Label ‚sozial und demokratisch‘ für sich wirbt.
Wollen, sollen wir wirklich glauben, dass Herren wie Scholz und/oder Laschet, in welcher Kombination auch immer sie eine neue Regierung nach den September-Wahlen bilden werden, dann die einschlägigen Konzerne und die wirklich Mächtigen und Reichen dieses Landes in die Schranken verweisen? Dieser Gedanke nötigt mir nur ein müdes Lächeln ab. Denn: Wie immer werden sie weiterhin nahezu jede ökologische Schandtat begehen, jedes weitere Stück neuer Autobahn mit Zähnen und Klauen durchprügeln, wie wir es gerade am Dannenröder Forst live beobachten durften. Sie werden uns sicherlich weitere Jahre mit Glyphosat bescheren, weiter ihre Hand schützend über K+S halten, damit dieser unbelehrbare Salzgigant weiterhin Flusssysteme und Grundwasser vergiften und zerstören kann. Und sie werden bis 2038 nicht nur hier bei uns weiter Braunkohle verfeuern lassen, sondern ebensolche Kraftwerke mit Bundesbürgschaften und entsprechenden Gewinnen bei den Produzenten solcher Anlagen an andere Länder verkaufen. Ja, all das um der Arbeitsplätze willen und damit der Aktienmarkt die Reichen, Mächtigen und Schönen der Republik immer wieder aufs Neue beglückt. Und Herrn Scheuer, dem beScheuertsten Verkehrsminister ever, wird mit großer Sicherheit wieder eine neue Spitzenkraft aus der CSU-Riege folgen, der/die es nicht viel besser machen wird als eben dieser unser Andi.
Und das bringt uns zurück nach Kassel und auf das hiesige kommunalpolitische Parkett. Hier haben wir es zwar nicht mit einer schwarz-roten Kombination zu tun, vielmehr mit einer seit Jahrzehnten die Kommunalpolitik dominierenden SPD. Erst in den letzten Jahren musste sie, widerwillig und sich sträubend zwar, einiges ihrer quasi-feudalen Macht an die Grünen abgeben. Dennoch blieb im Wesentlichen alles beim Alten. Und in Vielem ähnelte die SPD Politik in Kassel dem, was wir in den letzten Jahrzehnten im Bund und auch im Land erleben durften: Ein Manko an Phantasie, an Mut, an Ideen und an Sachverstand bei fast allem, wenn man ökologisch-politisches Handeln näher betrachtet. In ich-weiß-nicht-wie-vielen Artikeln bin ich diesem Großversagen in den letzten Jahren nachgegangen. Zugegeben meistens erfolglos, aber auch nicht immer, wie die schöne Geschichte und das gute Ende mit dem documenta-Archiv auf dem Karlsplatz gezeigt hat. Denn dort haben schließlich auch meine guten Argumente mit dazu beigetragen, der Vernunft zum Durchbruch zu verhelfen …
Nun vernimmt die verkehrsplanerisch interessierte Fachwelt und viele verkehrspolitisch engagierte Bürger*innen und Bürgerinitiativen, dass sieben Städte austesten sollen, ob Tempo 30 stadtweit und regelhaft gut sein soll: Also helfen soll, weniger CO2 in die Atmosphäre zu pusten, weniger Lärm* und weniger Verkehrstote und –verletzte zu produzieren, mehr Lebensqualität für alle in die Städte zu bringen und vor allem: Mehr Sicherheit für Fußgänger und Radfahrer zu erzeugen. Was für ein blödsinniger Test! Warum? Ja, genau, weil man das alles schon seit Jahrzehnten bestens weiß! Dafür braucht es keinen „7-Städte-Test“, vielmehr Konsequenz und Mut, das endlich umzusetzen!
Dass sich Kassel natürlich nicht für eine Schlüsselrolle dieser unnötigen Testerei beworben hat, muss nicht verwundern. Wir haben seit den letzten Kommunalwahlen zwar eine (verbal) grün eingefärbte Kommunalpolitik und sogar (wieder) einen grünen Verkehrsdezernenten, aber leider immer noch keine Wende in Sachen Ökologie und Verkehr. Das ist sehr bedauerlich, denn Kassel hat im Gegensatz dazu eine ausgesprochen bewegte und engagierte Bürgerschaft und darüber hinaus eine fleißige und überaus kompetente Oppositionsfraktion: Sie nennt sich nach den letzten Wahlen nun Linksfraktion und setzt das fort, was die Kasseler Linke über viele Jahre an vorbildlicher Oppositionsarbeit geleistet hat: Eine beachtenswerte Performance im Parlament für ökologische und soziale Ziele, gut vernetzt mit der vielfältigen und sehr aktiven außerparlamentarischen Opposition …
Und die war in der jüngsten Vergangenheit wahrhaft mehr als rege. Ganz besonders ragt hier die Initiative der Radler*innen für ein Bürgerbegehren zu einem Radentscheid heraus, für das 2018 über 22000 Unterschriften gesammelt worden sind. Aber auch die Proteste gegen die völlig hirnrissigen Einsparungen bei der KVG haben Eindruck hinterlassen, ebenso wie erster Widerstand gegen die städtische Wohnungspolitik, die immer die Betuchten im Auge hat, viel weniger jedoch die, die aus sozialen Gründen auf die Unterstützung der Stadt angewiesen sind.
Es wäre an der Zeit, ganz ohne abzuwarten, was bei dem Groß-Test in den sieben ausgewählten Städte in Sachen stadtweites Tempo 30 herauskommt, Tempo 30 schlicht und einfach sofort zu realisieren. Dafür braucht es nur klare Beschlüsse der Stadtverordnetenversammlung auf der Basis eines klugen und ausgereiften Konzepts, mit der klaren Mehrheit der Stimmen von SPD, Grünen und Linken. Niemand käme ins Gefängnis, niemand würde verurteilt, niemand würde gerügt: Denn Tempo 30 kommt so oder so! Und weil das alle wissen, kann auch auf die Testerei verzichtet werden. Tempo 30 rettet Leben, Tempo 30 verbessert die Luft, Tempo 30 macht Gehen und Radeln sicherer und Tempo 30 verringert den Lärm für Abertausende, die an den großen Hauptverkehrsstraßen Gesundheitsschäden in Kauf nehmen müssen … Natürlich auch mit der einen oder anderen begründeten Ausnahme, wie z.B. der vierspurigen Dresdner Straße. Am Ende kommt dann auch das Tempolimit auf den Autobahnen. Und wenn die Bundesrepublik Deutschland endlich die Raserei dort aufgibt, bleibt nur noch Nordkorea ohne ein vergleichbares Tempolimit übrig …
Also: Auf geht’s, Herr Nolda! Zeigen Sie Mut und engagieren Sie sich in Sachen Verkehrsberuhigung. Das ist nun ja wieder Ihr Job. Und kommen Sie bitte nicht noch einmal mit den Ruheoasen. Die sind auch gut, haben aber mit Verkehrslärm nichts zu tun. Wie man in meinem Artikel vom letzten Sommer hier lesen kann: Ruheoasen als Lärmschutz? Was für ein Unsinn!